Sasssigurd: Eine Reise in die Toskana

Erlebnisse des Unspektakulären

Die Toscana war das Ziel. Der Weg war ein Umweg.
Er führte zum Besuch eines alten Freundes über die Provence.
Er wohnte, eingebettet in einen Olivengarten, als Bildhauer in Maussane unterhalb von Les Baux.

Erst im Nachhinein wird mir klar, welch wertvolle Vorbereitung dieser Weg für meinen Besuch in der Toskana war. Ich fuhr ja nicht einfach in eine italienische Region.

Ich fuhr ja in ein Konstrukt. Eine kaum definierbare Mischung aus Geschichte, aus persönlichen Vorerlebnissen und Fantasievorstellungen, aus kulturellen Mythen und aus früheren gellschaftsbezogenen sowie heutigen massenorientierten Medien geformt.

Welche Zugänge gibt es da, worauf soll man seine Aufmerksamkeit lenken,
wo seine Netze auswerfen, wofür sein Herz öffnen, wo sein Eis schlecken, wie sich orientieren, wie zu seiner Klarheit finden?

An zwei Beispielen wird mir deutlich, welcher Sinn in dieser Art Vorbereitung lag.

Les Baux

Mit wehmütigen Gefühlen dachte ich an meine ersten Besuche in Maussane und Les Baux zurück. Wir bewohnten als Hippies die Felsenhöhlen um Les Baux herum, malten, diskutierten und lebten dort. Bei Besuchen in der Felsenstadt freuten wir uns nicht nur über Kaffee, Wasser und Toilette. Mit neugieriger Spannung streiften wir in den kleinen Galerien herum. Teilweise abenteuerlich verwinkelt in den Naturstein eingehauen, lockten die Ausstellungsräume mit klassischer Musik als Begleitung zu eindrucksvollen Bildern, die oft exotisch arrangiert waren.

Eine ältere Dame bat mich, weil es Ihr gefiel, dass ich vor ihrem Anwesen die von ihr aufgelegte Bachsonate mit Singen begleitete, in ihr Ensemble. Anders kann ich nicht nennen, was ich dort in Ihrer Kunstgalerie vorfand.

Die alte Dame wohnte dort auch. Quer durch den Raum war ein riesiger trockener Baum aufgehängt, dessen unteres Ende im Kamin glimmte und jeden Tag ein wenig nachgeschoben wurde. Für mich war es der Inbegriff von Originalität, wie sie mit diesem Baum, der Höhlenwohnung, der Musik und den Bildern zusammen lebte. Nicht nur trocknende Wäsche oder Geschirrtücher musste der Baum tragen - um mir Tee anzubieten, griff sie zwischen die verflochtenen Äste und zauberte ein paar Henkeltöpfchen hervor. Am unteren Ende hatte der Baum inzwischen zum Teekochen gedient. Die Bilder hingen drum herum.

Ihre Galerie lag direkt neben einem kleinen Theater.

Es war einem berühmten Besucher gewidmet. Von der Galeristin erfuhr ich, dass er dort in den Höhlen von Les Baux den 2. Film von Orphee gedreht hatte. Und irgendwann lernte ich Ihre Freunde anlässlich einer neuen Ausstellung in Ihrer Galerie auch kennen. Es waren Jean Cocteau (begleitet von Jean Marais), Lurcat und Picasso.

Viele Jahre hatte es mich immer wieder dorthin gelockt. Für die Galeristin und die Theaterleute jener Zeit war Les Baux noch immer der kulturelle Anknüpfungspunkt an das kulturelle Erbe der Vergangenheit. Neben Theater und Galerien hatten sie eine künstlerische Druckwerkstatt gegründet, wo sie mir in mancher rotwein-geschwängerten Diskussion meinen damals "wilden Strich" abgewöhnen wollten. Graphische Inkunabeln und Dali waren in, van Gogh war out.

Wir erlebten Les Baux völlig anders, als es sich heute dem Tourismus präsentiert. Für uns war es ein Ort der Inspiration, getragen durch das Bewußtsein, dass hier einmal die Troubadoure ein provencalisches Zentrum des Minnesangs gelebt hatten, dass es Zufluchtsort der verfolgten Waldenser war und dass hier Frederic Mistral mit seinem Roman "Mireille" aus den Resten der Troubadour-Sprache das Provencalische gesellschaftsfähig gemacht hatte.

Jede Zeit schafft sich das, was sie braucht, musste ich mir bei meinem jetzigen Besuch immer wieder sagen.

Nun ja, der Golfplatz unterhalb von Les Baux ist auch eine Art Landschaftspflege und Landschaftsgenuß. Für den Massentourismus bleibt die pittoreske Felsenstadt. Ich war froh, zwischen dem kommerziell geschleusten Gedränge einen Laden ohne Nippes zu finden, der mit Naturölen und provencalischen Seifen wenigstens die Qualitäts-Produkte der Umgebung anbot.

Bei einem Capucino in einem der wirklich schön gelegenen Kaffes, hatte ich sogar einen Blick auf jene Höhlen-Gegend gegenüber, die - heute für wandernde Besucher unzugänglich gemacht - uns damals für mehrere Wochen Quartier geboten hatte.

Cabasse

Weil ich Zeit hatte, die Autobahngebühr minimieren wollte und
mich mal wieder vom Nimbus Côtes d'Azur und vom Meer anlocken ließ, nahm ich bei St. Paphael und Cannes die Küstenstraße.

Man lernt halt nie aus. Ich wusste es doch,
dass die Verkehrs-Schlange träge und apathisch dahin dröselte, so wie die Hitze hier stehend war. Ich wusste es doch, dass mir die Nobelhotels und der Hafen mit den Millionärs-Yachten den Puls nicht höher bringen würde. Ich wusste es doch auch schon seit Aix, dass im Massengedränge, in den engen kurvenreichen Straßen, mit ihren Einbahnregelungen und den unregelmäßigen Öffnungszeiten der Ausstellungshäuser die kulturell interessanten Ziele so schwer zu erreichen sind, dass man es lieber gleich aufgibt oder sich auf einen kompletten Tag einlässt.

Trotzdem machte es natürlich Spaß, mit der palmenbestandenen Uferpromenade in Nizza Wiedersehen zu feiern. Außerdem fand ich tatsächlich - wenn auch erst in einem kleinen Vorort von St. Raphael - sogar ein Plätzchen, um eingekeilt zwischen km-langen Blechkarossen, mein Auto direkt an der Uferpromende parken zu können. Nur eine Mauer, ein voll belegter Strand und grauer kippenbesäter Sand trennten mich noch vom Meer. Doch dann: welche Labsal bei der Hitze.

Warum die Engländer im 19. Jh. dieses Plätzchen auserkoren hatten - jetzt im gut temperierten Wasser konnte ich es nachvollziehen. Doch warum es heute nach 150 Jahren Bau- Verkehrs- und Geltungsboom Besucher gibt, die sich diese Plätze als Urlaubsquartier wählen, bleibt mir ein Rätsel.

An bezahlbare Unterkunft war hier sowieso nicht zu denken. Deshalb ab in die Berge des Hinterlandes.

Nach dem Touristenandrang in Les Baux und der Côtes d'Azur
fand mein Befinden, geprägt durch den Gedanken: "die treten und bauen sich ja gegenseitig tot", erst wieder Frieden in Cabasse. Das ist ein kleiner Ort im Hinterland, abseits der Fernstraßen hinauf in Richtung Le Thoronet. Dort fand ich Quartier.

Gleich mein erstes Gefühl war Sympathie. Was aber war das Besondere, das mir in diesem Ort den Gleichmut zurückbrachte? Seine Attraktivität bestand darin, dass es nichts Besonderes gab.

Kleine winklige Straßen ohne Verkehr. Die letzten Kunden holten sich noch schnell ein Baguette vom Bäcker. Ein paar Leute bastelten an ihrem Auto. Liegengebliebene Materialien, von handwerklicher Tätigkeit zeugend, säumten meinen Weg. Aufräumen kann man ja morgen. Das läuft nicht weg. Was mich sonst vielleicht gestört hätte, hier wirkte es auf mich beruhigend. Gemüsegärten lagen zwischen vernachlässigten und verwildernden Parzellen. Unter dem abbröckelnden Putz der Häuser konnte ich erkennen, dass sie ausschließlich aus den Natursteinen der umliegenden Berge gebaut waren. Ältere Farbspuren suggerierten meiner Phantasie Geschichten von früherer Bewohnung. Im Gegensatz dazu fiel mir auf, wie gepflegt die Sportplätze aussahen. Das ließ auf eine Fürsorge für die Jugend schließen. Beschilderte Wanderwege erzählten davon, was die Bewohner in ihrer Freizeit trieben und was sie Besuchern anzubieten hatten. Alles atmete Normalität. Lebensspuren. Hinweise auf Muße und das existentiell Notwendige.

Entsprechend freundlich wurde ich begrüßt und angesprochen. Musik hatte mich in den Dorfkern gelockt. Er präsentierte sich als einer jener schönen Plätze, unter denen man sich im Schatten der Platanen sofort wohl fühlt. Zwischen den Bäumen um den historischen Brunnen herum hatte man vor den umliegenden Restaurants und Cafes Tische, Bänke und Stühle aufgestellt. Eine Life-Band spielte von der kleinen Bühne aus. Alles war offensichtlich zum Dorffest arrangiert.

Wie selbstverständlich boten die Feiernden dem Fremden Platz und rätselten, mit welchem Schauspieler er Ähnlichkeit habe. Die Diskussion lief auf Sean Connery oder Mario Adorf hinaus, um dann im gemeinsamen Spaß doch beides zu verwerfen. Der Exkurs in den überregionalen Medienbereich bot einen ersten Anknüpfungspunkt für ein Gespräch - geschickt gemacht, dachte ich.

Um 22.00 Uhr gings gemeinsam in eine der anliegenden Kneipen zum Fußball-Gucken. In kurzer Zeit waren Kontakte zu 4-5 Leuten entstanden. Einige erlebte ich am nächsten Morgen beim Kaffee in derselben Kneipe wieder. Die Preise hielten sich in Grenzen.

Was für mich handgreiflich war im Vergleich zu Baux und zur Côtes d'Azur:
Das Glück des Einfachen, der Normalität und der kleinen Freuden in direkter Verbundenheit mit den anderen Mitmenschen.

Ganz anders als das Event, das ich in St. Raphael beobachten konnte, wo sich in der Nähe zum Yachthafen 100-erte mit einem Glas Sekt in der Hand um Beachtung und Teilhabe am vermeintlichen Glück drängten.

Florenz

Kein Missvertändnis! Dies ist kein Credo gegen das Moderne.

Weiter fuhr ich über die Autobahn, dankbar für diese Alternative zur Küstenstraße.
Von Tunnel zu Tunnel, von Brücke zu Brücke stieg meine Bewunderung für die Meisterleistung der Ingenieure. In wenigen Stunden war ich von Nizza aus in Florenz.

Es ist schwer in den Metropolen mit ihren medial überhöhten Attraktivitäten und Mythen noch Plätze der Normalität (wie oben beschrieben) zu finden.

Florenz, bestätigte diese Erfahrung.
Die Nachlassenschaften der Medici, Michelangelos, Leonardos und anderer werden heute als Übersetzung in die mediale Währung präsentiert. Vermittelt wird eine simulierte Teilhabe. Ihre Inszenierung führt zu Strömen ameisenhafter Betriebsamkeit, mit denen die Hohlräume, die das eigentliche Potential enthalten, gefüllt werden. Ein Besucher auf der Piazza Michelangelo oben über der Stadt erzählte mir, dass die vielen Japaner dort einer inzwischen beliebten Mode folgen. Sie geben nach ihrer Hochzeit in Japan oft Unsummen (bis zu 50.000 Euro - als Kredit von der Bank) aus, um hier auf der Piazza Michelangelo ihr Hochzeitsfoto machen zu lassen. Die Attraktion besteht darin, sich als Pärchen im Hochzeitsdress mit ihrer Verwandtschaft vor der Kopie des David und Florenz im Hintergrund 'verewigen' zu lassen.

Da, wo sich bei mir vor 55 Jahren der fette Schildkrötenmann der Boboli-Gärten als Grafit-Zeichnung in mein Skizzenbuch eingenistet und der Besuch der Medici-Kapelle in Form eines Gedichts zum Ausdruck gebracht hatte, war nun der Haupteindruck: M e n s c h e n m a s s e n.

Sie erschienen mir wie eine wabernde Film-Projektion aus kamerazückenden Leibern, hinter der das Atmen der historischen Ideen erstickt.
Erst nachts ist der Spuk vorbei, was mögen sie dann sich wohl erzählen?

Was habt ihr, Medici, Michelangelo, Leonardo da nur in die Wege geleitet?
Der Ruhm, nach dem ihr strebtet, zieht die Würmer an, die ihn zerfressen.
"Wo der Anziehungsmechanismus wirkt, setzt die Aufmerksamkeit aus - und umgekehrt. Wenn ich mir und der Welt Aufmerksamkeit schenke, wird das Leben auf zauberhafte Weise relevant." *)

Mein Haupterlebnis war daher diesmal der zufällig gefundene Platz vor der Kirche Santo Spirito.

Da war er, der Urgrund des Gedankens, der zur Philosophie des Maßes in der Renaissance geführt hatte und der so schnell von den eigenen Erfindern in die kolossale Übersteigerung geführt wurde.

Wieder das Erlebnis von Normalität. Sofort fühlte ich mich wohl. Der Platz war gesäumt von Häusern ohne Extravaganz und einigen kleinen Restaurants.

Er lud zum Verweilen ein. Ich musste mich entscheiden, wollte ich mich lieber an einen der Außentische der Cafees setzen oder auf eine Bank im Mittelfeld der Platzanlage?

Ein Brunnen lockte mit friedlichem Plätschern meine Aufmerksamkeit. Vom kühlen Schattenplätzchen schaute ich mich um. Unter hohen Olivenbäumen, Eschen und einer Einfassung aus Linden hatten Pärchen auf den Steinbänken Platz genommen. Lesen, Plaudern, Dösen, Schlafen - Ruhe Suchende / Ruhe Findende.

Auch die gebeugte ältere Dame auf der Steinbank im Baumschatten passte hier besser ins Bild, als das, was ich vor einer Stunde erlebt hatte. Dort begegnete mir eine ältere Frau als hin- und her geschubstes bettelndes Hindernis im beiderseitigen Touristenstrom auf der Ponte Vecchio.

Am Verhalten der Menschen merkte ich, hier hatten sie ein Stück Alltagsruhe gefunden. An der Kirchentür lehnten Rucksack, Decke und Untensilien eines "Stadtstreichers", auf den Stufen verzehrten junge Leute (wie im Schutz der Kirche) ihre Pizza.

Es ist die unspektakuläre Leere von "Santo Spirito", dachte ich, die sich friedlich dominant auf den Platz überträgt. Die kolossale Leerheit der Kirchenfassade wirkt wie ein Leit-Thema zur Eröffnung des gesamten Raumes.

Im Getriebe der Stadt erscheint sie wie ein ungewöhnliches Monument der Stille, der Klarheit und der Beschränkung auf fast nichts. Eine große weiße Fassade ohne jeden Schmuck. Die 3 Eingangstüren und die Rosette in programmatischer Symmetrie bilden die einzigen Unterbrechungen. Sie sind wie plastische Symbole für Input und Output des geklärten Geistes. Harmonie ohne Anstrengung.

Zwei großgeschwungene Voluten vermitteln an den Rändern zwischen unterem Rechteckfeld und oberen Übergang zum Dach. Doch eigentlich ist diese Aufteilung nicht zulässig. Die ganze Fassade ist ein zusammenhängendes hell leuchtendes Feld. Sie wirkt wie eine Hymne an die Unendlichkeit des universalen Raumes.

Die geschwungene Form der Voluten vermittelt zwischen der irdischen Gebundenheit und diesem Raum als wäre vom Feld der Leere etwas hinweg genommen, um der Schutzfunktion des Daches ein menschlich notwendiges Zugeständnis 'einzuräumen'.

Der architektonische Gedanke erscheint mir so deutlich greifbar:
Das lichte leere Feld und seine oberen seitlichen 'Einräumungen' - klarer kann man eine architektonische Entsprechung zum sprachlichen Begriff kaum realisieren.

Als erstaunlich erlebte ich, wie das heutige Gerangel um die spektakulärsten Attraktionen in Florenz die Genialität und Tragfähigkeit dieser architektonischen Idee zum Vorschein bringt.

Sie schlägt kurz vor dem Höhepunkt der italienischen Renaissance die ruhmsüchtige Verzierungs- und Steigerungssucht der Konkurrenten - auch der kommenden - durch Beschränkung auf einen einfachen Gedanken.

Auch wenn heute die Fassade - weil eben leer - als nicht fertig geworden eingestuft wird, fand ich in den Beschreibungen drei schlagende Argumente dafür, dass sie absichtlich so ist.

  1. Das Gebot der Beschränkung durch Armut. Die im 13. Jh. nach Florenz eremitierten Augustiner-Mönche hatten schlicht kein Geld um den geplanten Kirchenbau zu realisieren, so dass sie erst 1434 (nach langer Sparstrecke) Brunelleschi mit dem Bau beauftragen konnten.
  2. Es heißt, die Kirche sei die reinste (sprich auch: klarste) von Brunelleschis Bauten, weil er sich hier nicht auf vorgefundene Bausubstanz beziehen musste. Auch wenn die Fassade zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht vollendet war, bedeutet das nicht, dass nicht eine Skizze dafür vorgelegen hat und ein späterer Architekt Brunelleschis Plan der Klarheit kongenial umgesetzt hätte.
  3. Der Name der Kirche legt nahe, worum es ging. Wie konnte die Klarheit des heiligen (sprich auch: universellen) Geistes besser ausgedrückt werden als durch die oben beschriebene dekorlose Leere? Eine Gesamtform ohne Zierat ist die angemessenste ästhetische Materialisierung von Inhalt und Begriff "Santo Spirito". Das Nichts als Symbol für das Unbeschreibbare.

Man merkt, diese Fassade ist nicht darauf angelegt, dass die Menschen sich zu ihrer Bewunderung auf dem Platz drängen.

Der Platz lebt und atmet noch heute als Gegenentwurf zu den Sensationswerten der medici-zentrierten Anstrengungen von dieser Einfachheit und Enthaltung.

Kraftzentrum

Zur Krönung dieser 'Erleuchtung' bekam ich in einem der Restaurants am Rande einen Drink 'der Einfachheit' aus Obst und Gemüse des Hinterlandes.

Wie seit Jahrhunderten hält ja das Hinterland den Puls von Florenz am Leben. Mit der Lässigkeit eines ohnehin etwas abseits gelegenen Barkeepers schien er bei der Heratellung des Drinks mehr Wert auf Inhalt zu legen als auf Verpackung.

Das kam meiner Einstellung voll entgegenkam. Deswegen konnte ich - den Protest von der Zunge herunterschluckend - auch nichts dagegen einzuwenden haben, dass das Obst mitsamt Schale und Aufkleber im Mixer landete.

Ich schmeckte trotzdem die Sonne und die Erde der Toscana aus ihm heraus.
Seit den ersten besiedelten Zeiten scheinen sie (wie das schon die Etruskerkultur belegt) die inspirative Kraft dieser Gegend zu sein.

Ein wenig konnte ich in den nächsten Tagen teilhaben an dieser Energie.
Mein neues Quartier lag oberhalb des Arno-Tales bei Figline, 25 km südlich von Florenz. Ich hatte es der Zusammenarbeit mit Stefania an ihrem Sardinien-Büchlein zu verdanken. Sie hatte hier ihren Mann und Anschluss an die Familie Besancon auf dem Weingut 'Casanuova' gefunden.

Erst der nächste Morgen machte mir bewusst, wie einmalig dieses Fleckchen war.

Mein Blick fiel - nein, falsch! Da war nichts Fallendes, kein Energieverlust - der Blick ruhte schwebend auf dem Tal. Um mich herum: Ein Panorama von Hügeln, gesäumt von üppiger Vegetation. Zur Zeit herrschte eine Mischung von Nebel, Regen, dicker Bewölkung mit durchbrechender Sonne. Wie in einem Breitwand-Film lief diese wechselnde Mischung vor mir ab. In den nächsten Tagen konnte ich erleben, wie sich die Sonne bis zur glutsengenden Hitze steigern konnte. Dieses abwechslungsreiche Klima schien der Impuls zu sein, aus dem sich die Pflanzen im Zusammenhang der mineralstoffreichen Böden die Energie holten, um sie in einer Palette aus Grüntönen, Blattformen und Früchten dem Tal und seinen Hügeln, seinen Bewohnern und Betrachtern, wie jetzt gerade mir, als Lebenselixier weiterzugeben. Danke.

Zwischen Weinbergen, Oliven, Parzellen mit auch größeren Bäumen wie Walnuss, Esskastanie, Obst- und Wildbäumen lag im Zentrum des Tals Figline wie eine handvoll hingestreuter kristalliner Gedanken-Splitter. Hinter Figline dann, die Hügel aufwärts, schloß eine bläuliche Gebirgskette den Horizont ab.

Nur selten habe ich in letzter Zeit ein solches Verbundenheitsgefühl mit allem um mich herum erlebt. Alles fließt. Keine Trennung mehr - durchbrochen die Grenzen, die der Verstand mir nahelegen will. Innen und Außen sind eins. Ein kaum zu beschreibendes vibrierendes Glücksgefühl füllt mich aus.

Als diese Erfahrung in diesem Moment durch einen Anruf von meiner geliebten Dorothee gekrönt wird, lassen sich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Das Glück der Einheit findet seinen Ausdruck ohne Filter. Alles ist offen und weit, alles hat Platz in mir.

Es drängt mich zum Schreiben. Was mit dem Herzen gefunden wird, sucht seine Form über das Gehirn. Wie eine Olive am Baum reift, drängen die Eindrücke durch das kleine Medium, das ich bin, im Kontext der unendlich vielen Medien um mich herum zum Ausdruck.

Welch wunderbare Konzentration so eine Olive ist - Essenz für einen neuen Baum. Man kann nur davon träumen, zu einer ähnlichen Essenz zu finden.

Meine außergewöhnliche Unterkunft im Herzen der Toscana machten die Konzentration auf diese Zeilen möglich.

Großen Dank an Yves, Stefania, Thilo, Ulla und Thierry Besancon sowie die Mitwirkenden von "Casa Nuova", die hier einen Platz des inspirierenden Friedens geschaffen haben, ihnen sei dieser Text gewidmet.

Mit einer großen Anzahl anzumietender Zimmer und einer selbst erzeugten biologischen Versorgung steht er allen zur Verfügung, die daran partizipieren wollen. Durch das so typisch toskanische Ambiente und den großen Gemeinschaftsraum ist er anregend besonders auch für Gruppen. Die Unterhaltung auf Deutsch, natürlich auch auf Englisch, Holländisch und Italienisch macht vieles leichter.

*) Anm.: Kongruente Erkenntnis als Zitat gefunden bei:
Daniel Herbst, Ich ohne Mich.
Wir sind Veröffentlichungen des Unsagbaren,
Hamburg 2008, ISBN 978-3-8370-5378-4