Die Bucht kannte ich, die Wege kannte ich. Ich wusste, nach Süden Richtung Cala d'Or und darüber hinaus bis Porto Petro, dem liebenswerten kleinen Hafen mit noch ursprünglichem Charme, läuft man an den Wundrändern der Ferienurbanisation entlang. Bauschutt und Unrat finden sich abgelagert in der Wechselzone zwischen neu definierter Strandregion und tradierter Agrarwirtschaft. Aus dem Leib der Oliven- und Mandelplantagen war, wie bei einem Kaiserschnitt, das neue Kind der touristischen Hochburgen hervorgespült worden. Viel zu unerwartet und viel zu unvorbereitet für das über Jahrhunderte gereifte Land. So lag es nun vor mir, aus der künstlich beatmeten Frühchenstation herausgewachsen. Es hatte seine neuen Kleider erhalten von Thomas Cook, Neckermann, Tui und war zu einem selbstständigen Wirtschaftsfaktor für die Insel herangereift. In einer zwiespältigen Symbiose partizipierte Mallorca an den Veränderungen, ich partizipierte mit. Soviel auch diese Art von "Wander-Erfahrung" ihren Wert haben mag bei der Beobachtung der sich verändernden Inselstruktur - danach stand mir bei der heutigen Wanderung nicht der Sinn.
So wandte ich mich der Gegenseite zu. Die lohnenswerteste Strecke von dem "Cala Azul-Hotel", dieser im weißen Ibiza-Stil flachgeschossigen Ferienanlage, schien mir der Küstenweg über Cala Mitjana, Cala Sanau Richtung Porto Colom zu sein. Aus früheren Radtouren war mir die Strecke bekannt und so bog ich - Cala Sa Nau rechts liegen lassend - Richtung Westen ab, den Bergen und dem kommenden Sonnenstand entgegen. Es sind etwa 6-8 km bis S'Horta.
Dieser Name, vom Lateinischen abgeleitet und durch den einzigartigen indogenen Artikel "Sa" katalanisch einverleibt, versprach eine Gartenlandschaft. Tatsächlich tauchte ich in eine relativ intakte Felderwirtschaft ein. Links und rechts hinter den Trockensteinmauern Plantagen mit Mandelbäumen, Johannisbrot-, Feigen- und Weizenkulturen, darunter hin und wieder weidende Schafe. Eben jener anfangs erwähnte agrarische Leib, der sich allmählich hügelaufwärts der Serra Levante entgegen bis S'Horta erstreckt.
Meine fotografische Erkundungs-Neugier führte mich auf manchen Nebenweg. Ich kam durch üppig weiß erblühte Lilienfelder, entlang an blühenden Opuntienhecken, vorbei an frisch gegrubberten Furchen roter Erde, an einem Eselsgehöft und vorbei an einem Hof, dessen schwarze Hunde sich mit geiferndem Gebell am Zaun zwischen uns verausgabten. Schließlich fesselte meine Aufmerksamkeit ein etwas abseits liegender alter Ziehbrunnen, dem man den jahrhundertalten Gebrauch am sonnenergrauten Balken, zum Heraufbefördern der Eimer, ansah. Ein museales Relikt, wie eine Plastik von Henry Moore aus dem Acker emporgewölbt und harmonisch eingewachsen in ein Dickicht von Lilien, lud er zur Schattenpause ein. Ich konnte ermitteln, dass er als Zisterne von dem Dach eines in der Nähe gelegenen Schafstalls gespeist wurde. Nachdem ihm das Grundwasser abgesaugt war, schien er als Wasserspeicher noch seinen Dienst zu erfüllen. Der gewölbte Zugbalken, tropfnasse Wasserreste, ein rostiger Eimer, ein aufgeschossenes Seil und die von farbigen Flechten besiedelten Quader der Mauern lieferten mir interessante Fotomotive. Ich stellte mir die Frage, was mich an diesen Motiven so sehr reizt. Klar, es ist der Kontrast zur heutigen Lebensweise. Doch was verbirgt sich darin? Erwacht mit der handgreiflichen Einfachheit der Naturmaterialien die Sehnsucht nach einem nicht denaturierten Leben, in dem wir näher an der der Erfahrung des Einfachen und Überschaubaren sind? Oder spüren wir eine Freude an dem Zusammenwirken von Natur und menschlicher Bearbeitung, zumal noch unter einem Zeitfaktor, der die menschlichen Genarationen überdauert und bei dem die Einwirkung der Naturenergien wie Sonne, Wind, Erosion, Bewuchs von Flechten und Moosen nicht zur Zerstörung sondern zu einer ästhetisch geformten Verschönerung führt? So hatte es einige Stunden in glühender Hitze gedauert, bis ich schließlich müde und ausgehungert in S'Horta ankam.
Hier entpuppte sich, wie unsere Gedanken uns ein Schnippchen schlagen können. Der Name des Ortes hatte bei mir eine Vorstellung hervorgerufen, die man nun schlicht ein romantisches Trugbild nennen könnte. Angesichts der Realität streckte sie nun wie ein erlegter Fantasie-Tiger alle Viere von sich. Von Gartencharakter innerhalb des Ortes keine Spur. Das Lateinische, das ich mit dem Namen "S'Horta" assoziiert hatte, war lediglich in einer römisch-newyorkischen Rasterstruktur der Straßenanlage ohne besondere Erlebnis-Qualität zu spüren. Kein Dorfplatz mit baumbestan-denem Charme. Bewohner waren nicht auszumachen. Ein paar Autos auf Durchfahrt. Die einzige als Café erahnbare Fensterfront versteckte sich hinter geschlossenen Gittern. Ebenso das als "Supermarkt" bezeichnete Türchen eines Eckhauses. Es war nicht erkennbar, ob es überhaupt noch in Benutzung war. Meine Stimmung näherte sich dem Nullpunkt. Selbst für den wenig einladenden quadrigen Kirchenbau des Ortes musste man schon den Enthusiasmus des patriotischen Fremdenführers aufbringen, um ihm den Reiz abzugewinnen, dass er - Zitat: "einer der wenigen monumentalen Kirchenanlagen ist, die im Stil der ländlichen Feldsteinhäuser gebaut ist". - Natürlich auch geschlossen!
Es kam also nur Rückfahrt in Frage.
Der einzige Bewohner, den ich schließlich auftreiben konnte, quittierte meine Frage nach einem Bus mit ungläubigen Lächeln: Bus - oh nein, kein Bus von hier und heute am Sonntag schon gar nicht.
Enttäuscht und missmutig versuchte ich meinen Hunger zu vertrösten. Der forderte jedoch Respekt und bohrte im Magen und im Kopf. Auf einen Rückweg zu Fuß wollte er sich partout nicht einlassen. Mit Aufgebot aller Kräfte konnte ich ihm abgewinnen, wenigstens einen kleinen Blick auf meine Wander-Karte werfen zu dürfen. Dort hatte ich nämlich entdeckt, dass es neben der bisher benutzten Route noch einen kleineren Feldweg Richtung Cala Ferrera gab. Das konnte doch interessant sein.
Mit etwas Glück fand ich schließlich den Ausgangspunkt zu diesem Pfad. Er erschien durchaus nicht monoton. Andererseits war er jedoch auch nicht so verlockend, dass er meiner augenblicklichen Verfassung den erhofften Auftrieb gab. Der bisherige Fußweg, die Sonne, die Enttäuschung über das geschlossene Café und die ermordete Hoffnung einer Busrückfahrt lasteten schwer auf meinem Energiezentrum. Taxi kam aus Stolz und aus einer - der Kriegs- und Nachkriegszeit geschuldeten - Sparsamkeitserziehung nicht in Frage. Mein Stimmungstief beschreibe ich so ausführlich, damit nachvollziehbar wird, was sich in diesem Augenblick der mutraubenden Aussicht auf einen 8km Fußmarsch nach durchwandertem Tag kurz vor einbrechender Dämmerung und kurz vor Sonnenstich ereignete.
Wie aus dem Nichts kamen mir in forschem Tempo und in gestikulierende Unterhaltung vertieft auf dem vor mir liegenden Weg zwei Herren entgegen. Der eine etwas gedrungen von muskulöser Statur, an das Image eines fitness-trainierten Bodygebildeten erinnernd, der andere schlank, größer als sein Begleiter, eine aufrechte dunkel gekleidete Gestalt. Beide kamen direkt auf mich zu, und machten just an der Stelle, wo ich unschlüssig stand, ohne von mir die geringste Notiz zu nehmen, kehrt. Ohne erkennbaren Grund folgten sie dem Weg, den sie gerade gekommen waren, nun in umgekehrter Richtung - als sei es das Selbstverständlichste von der Welt - im selben Tempo und im bereits beobachteten gestikulierendem Gespräch. Es war, als wollten sie mich abholen oder als wären im unendlichen Strom der Zeit zwei Ereignisse, die partout miteinander nichts zu tun haben, aufeinander zu- und dann wieder auseinandergedriftet.
Zunächst wunderte ich mich nur und maß dem keinerlei Bedeutung bei. In Gedanken, mehr unbewusst, folgte ich ihnen. Es war ja schließlich auch mein Weg nach Cala Ferrera. Dann merkte ich, wie - mit sich vergrößerndem Abstand - mein Ehrgeiz erwachte, mit den beiden Schritt zu halten. Das Erstaunliche war, ich konnte mich anstrengen, so viel ich wollte, ich kam ihnen partout nicht näher. Die hinter uns bereits tiefstehende Sonne trug meinen Schatten bis zu ihnen und zeigte mir maßgetreu, wie unerbittlich gleich der Abstand blieb. Das weckte die Neugier, mir die beiden genauer anzusehen. Es war ein sehr unterschiedliches Paar. Der Jüngere, Kompaktere, war mit raumgreifenden, geradezu rudernden, Bewegungen sichtlich bemüht, mit dem viel Älteren Schritt zu halten. Die auf seinen Rücken treffenden Sonnenstrahlen hatten keine Zeit, sich niederzulassen. Sie tanzten in zerhacktem Ballett durch die Bewegungspartitur seiner Rückenpartie, tanzten über Arme, Gesäß und Rückenmuskulatur, so dass es aussah, als läge er mit ihnen im Kampf. Ganz anders die hochgewachsene Gestalt des Älteren. Schmal, ruhig und aufrecht gehend, die Arme eng am Körper haltend, war seine Bewegung gleichmäßig auf die Mittelachse seines Körpers zentriert. Seine Schritte waren kaum wahrzunehmen. Er kam mir vor wie eine Feder, die in schwebendem Gleiten ohne Anstrengung über den Boden wehte. Dabei war er offensichtlich ohne jede Atemnot noch ins Gespräch mit dem Jüngeren vertieft. Hin und wieder wies er mit einem der Arme mal in diese oder in jene Richtung und - was zu meiner Verwunderung beitrug - breitete unerwartet die Arme aus, als wolle er sich Kraft aus dem Kosmos holen. Die bereits rötlich werdenden Sonnenstrahlen sammelten sich auf seinem Rücken dabei, wie zum segnenden Kreuz geformt. Der 'Cristo redentor' aus Rio de Janeiro von der Rückseite gesehen.
Ich folgte ihnen so schnell ich konnte. Mit dem Höchstmaß meines Schritt-Tempos, also kurz vor dem Laufschritt, schaffte ich es, so mit ihnen Schritt zu halten, dass sich die Entfernung ganz minimal ein klein wenig verringerte. Ich war so fasziniert von der dahinschwebenden Leichtigkeit des charismatischen älteren Herrn, dass die 8km des Weges sich im Unbewussten aufgelöst hatten. Ich bemerkte das erst, als wir schon am Ortsrand von Cala Ferrera waren. Der Geist hatte über den Körper gesiegt.
Als die beiden von meiner Zielrichtung abbogen und plötzlich, wie aufgelöst verschwunden waren, schickte ich ihnen einen Dank hinterher. Angeturnt ging ich leichten Schrittes die letzten paar hundert Meter bis zum Hotel.
© Sigurd Saß 2008