Alle Restaurants auf Mallorca waren geschlossen oder mit einem Galamenü überbelegt - selbst in Palma: keine Chance. Dabei hatten wir uns eine gemütliche Sylvesterfeier unter Einheimischen vorgestellt. So kam es, dass, zurückgekehrt ins Hotel in Santa Ponsa, Dorothee durchgefroren und müde von unserem Ausflug nach Galilea ins Bett kroch und ich schließlich in dem wahrhaftig einzigen "normal" bewirtschafteten Lokal - einem Chinesen, da dort die Jahreswende wohl zum anderen Zeitpunkt gefeiert wird - ein Abendessen fand. Kein Buch, keine Zeitung, kein Zeichenblock zur Überbrückung der Wartezeit bis zum Essen - so entstanden auf einem kleinen Thekenblock mit geliehenem Kugelschreiber diese Zeilen.
Na gut, die Wahl Mallorca war schon fast selbstverständlich: 7 Tage ( mehr stand nicht zur Verfügung ), 2 Stunden Flug ca. 430,00 €/Person und eine gewisse Sonnengarantie selbst zum Jahreswechsel.
Galilea wusste die Erwartungen einzulösen. Da blühten nicht nur die gewohnten Bougainvilia und der Hibiscus, der bei uns schon im September die Blütenflügel gestrichen - nein, da gab es einen Aufstand der Flora gegen die in unserem Kopf festgeschriebenen Normen. Da blühten Rosen, Lavendel, Rosmarin, und waren diese im Denken noch dem vergangenen Jahr zuzuordnen - da blühten bereits weiß bis rosa üppig einzelne Mandelbäume sowie weiße und gelbe Blütenwiesen im Vorgriff auf 2008, als sei die eiszeitliche Grenzziehung zwischen den Jahren nur eine typisch germanische Gewohnheitskategorie. Schlagartig wurde solcherart bewusst, warum sie dorthin gedrängt: die Westgoten, die Ostgoten, die Vandalen, die gesamten nordischen Stämme auf dem Weg zu den mediterranen Magneten, wo sie endlich mit der klimatischen Grenzüberschreitung die im Norden vergletscherten Denkmuster auflösen und in naturverwöhnte Gelassenheit umtauschen konnten. Ein Wechselkurs, der auch auf uns heutzutage seine Anziehungskraft ausübt.
Für uns war klar, die Unterkunft im Apartment des Hotels in Santa Ponsa mit wunderschönem Südblick über die Bucht war nur eine Art Basic-Camp, von dem aus unser Individualurlaub mit Entdeckungswanderungen ins Inland erfolgen. So blieb es nicht aus, dass bei der Suche im nichttouristischen Hinterland - der Blick auf den Namen Galilea fiel. Hatte ich ihn bisher immer mit dem Land und der Wirkungsgeschichte von Jesus in Verbindung gebracht, war es nicht zu vermeiden, dass die Diskrepanz zur modernen Touri- Insel Neugier hervorrief - so dass auch wir uns aufmachten auf den Weg nach Galilea.
Die Inspiration bewährte sich. Ein im Windschatten und wie ein Sonnenfang den Hang hinauf gebautes Bergdorf, mit kleinen gewundenen Straßen und Wegen zwischen Gärten, Mandelplantagen und verwilderten terrassierten Olivenhängen.
Auf dem Kammweg oberhalb des Dorfes hatten wir das Glück, einem in Galilea geborenen Mallorquiner zu begegnen, der - anfangs etwas verschlossen - dann aus den Tiefen der Erinnerung seinen Sprachschatz aus schulisch erlerntem Französisch emporholte, um unserem offensichtlichen Interesse weiter zu helfen. So erfuhren wir, dass er bei einer Bank in Palma seine Arbeit hatte und hier im Tal auf der Rückseite des Ortes ein kleines Anwesen bewohnte, und so lernten wir jenen wunderschönen Höhenweg oberhalb des Dorfes kennen, von dem man diesen einzigartigen Platz auf dem privaten Gelände seines Freundes erreichte, der den Blick freigab Richtung Palma, Richtung Andratx, Richtung Valdemossa - fast 360° über die gesamte Insel, ein wahres Belvedere mit Panorama-Schwenk.
Um uns herum in nächster Umgebung Wildnis mit Macchia, Pinien und Kermeseichen, unter uns der Ort Richtung Süden und Westen in der letzten Abendsonne. Mittendrin die Kirche mit ihrem kubischquadrigen Turm, in der wir ( so das Plakat ) vor zwei Tagen ein Konzert hätten haben können und neben der die im Guide beschriebene einzige Bar des Ortes wegen Sylvester geschlossen hatte.
Für den biblischen Namen, so erfuhren wir, gäbe es verschiedene Erklärungen. Als plausibelste bevorzugte unser Begleiter die Geschichte aus der Zeit der Eroberung der Insel durch die christlichen Ritter und der Vertreibung der Mauren. Stück um Stück wären kleine Bastionen als ritterliche Vorposten, dann Klöster und landwirtschaftliche Versorgungshöfe gegründet worden. Diese seien infolge der damaligen Verkehrsmöglichkeiten immer in Entfernungen von einem Tagesritt oder einer Wagenstrecke angelegt gewesen. So hätte von Station zu Station eine Versorgung in die eine und die andere Richtung über die gesamte Insel aufgebaut werden können bis in die entferntesten Gebirgswinkel. Und dieser Platz hier wäre eben der entfernteste im damaligen System gewesen. Für die kreuzfahrterprobten Ritter lag er so weit weg wie Galilea.
Ähnlich weit weg klang für mich die Stimme, die mich aus meinen Zeilen hervorholte. Die auf englisch gestellte Frage, was ich denn dort schreibe, war wohl dem Mitgefühl zu verdanken, das das Ehepaar am Nebentisch mit dem einsamen Herrn kurz vor dem Jahreswechsel hatte.
So lernte ich ein Pärchen aus Schottland kennen, er Lehrer der Sekundarstufe II, sie mit der finanziellen Umstrukturierung der Universität von Glasgow bei der Umstellung der Hochschule auf ein Stiftungsmodell beschäftigt.
Da war es: Das Europa ohne Grenzen, Globalisierung bis zum Tisch in einem chinesischen Restaurant am Sylvesterabend auf Mallorca - es war als würde der Film sich lückenlos fortsetzen, nur mit schottischer Besetzung, den ich vor kurzem an der eigenen Hochschule verlassen. Da er nicht ohne Schaden für mein Metier am Institut für Bildende Kunst ausgegangen war, hatten wir (sozusagen als mallorquinisch-chinesisch-schottisch-deutsches Konferenzensemble ) 2 Stunden lang ein anregendes und lebendiges Gespräch über die Problematik, wie man gegenüber einem wirtschaftlichen Effizienzbegriff nicht valuierbare Kultur - und Bildungsinhalte vor der Vernichtung retten könne. Meiner Frage: "Wieviel wert ist der Gesang einer Nachtigall?", versuchte die Schottin dadurch zu begegnen, dass man durch stärkere wirtschaftliche Verwertung der Forschungsergebnisse im Verbund mit Sponsorengeldern auf der einen Seite eine Art Surplus für die andere Seite gewinne.
Sie konnte mir mit ihrem Modell meine Befürchtung nicht nehmen, dass bei dieser Form der Abhängigkeit das geistige Brot zum mageren Krümelchen auf den Tischen der Kulturen für die hungrigen Kehlen der Nachtigallen zusammenschrumpft.
Die Ankündigung des nahenden Sylvesterglockenschlags führte uns auseinander, die beiden Schotten zu der Verabredung mit Freunden in der "deutschen Bar", mich ins Hotel zu Dorothee. Vom Balkon aus erblickten wir die im Spiegel der Bucht unter uns die himmelhoch explodierenden Lichter des neuen Jahres.
© Sigurd Saß 2008